Anna Ross
20.04.2021
20.04.2021
4 Minuten mit Dr. Stefanie Stegmann
In vier Minuten in die Waldidylle: Die Fahrt mit der Standseilbahn ist immer ein Erlebnis. Wir nutzen die Zeit, um Stuttgarter Persönlichkeiten in einem "schrägen" Interview kennenzulernen.
Stefanie Stegmann wurde 1974 in Lübbecke im Norden Deutschlands geboren. Sie studierte Germanistik und Kunst für das Lehramt und promovierte in den Kulturwissenschaftlichen Gender Studies über das "Outfit von Wissenschaft" an der Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg. Von 2003 bis 2005 war sie als Lektorin für den Deutschen Akademischen Austauschdienst an der Universität Czernowitz in der Ukraine tätig. Von 2005 bis 2013 leitete sie das Literaturbüro Freiburg und initiierte dort den Prozess zur Gründung eines Literaturhauses in Freiburg. 2014 hat sie in der Nachfolge von Florian Höllerer die Leitung des Literaturhaus Stuttgart übernommen.
Frau Stegmann: Kaffee oder Tee? Kaffee! Wie beschreiben Ihre Eltern Sie als Kind?
(kurzer Chatverlauf):
Stefanie Stegmann: „Hallo Mama, guck mal… Frage 2, bitte um kurze Antwort. 😉“
Angelika Stegmann: „Von angstbehaftet vor Unbekanntem (Kindergarten, Einschulung etc.) bis zum Rebellen, selbstbewusst, großes Gerechtigkeitsempfinden, besonders gegenüber Schwächeren. Sehr wach, immer aktiv. Wird das veröffentlicht?“ Mögen Sie ihre eigene Handschrift?
Nicht besonders. Ich habe als Kind und Jugendliche regelmäßig meine Handschrift verändert, neue Buchstabenschreibweisen – vorzugsweise mit g, b, f, m und n – ausprobiert und trainiert, aber wirklich schön wurde das nie. Allerdings kann ich heute eine große sinnliche Freude an schönen Handschriften beispielweise im Gästebuch des Literaturhauses nicht leugnen. Ich empfinde Handschriften, je seltener sie im Alltag der Gegenwart auftauchen, umso persönlicher, weil sie letztlich eben doch nicht kontrollierbar einen eigenen Körper bilden, der sich zum jeweils schreibenden Körper in ein aufregendes Verhältnis setzt. Können Sie sich mit einem bekannten Buchcharakter identifizieren? Wenn ja, mit welchem?
Fiese Frage! Ich kann mich anteilig mit so vielen Facetten so vieler literarischer Charaktere identifizieren, ohne gleich die ganze Figur deckungsgleich auf die Umrisse meines Charakters legen zu wollen. Aber ich fühlte mich vor vielen Jahren Madame Chauchat in Thomas Manns Zauberberg über eine abstoßende Beschreibung unangenehm nah: Sie wird als innerlich „wurmstichig“ beschrieben, ein Bild, dem ich mich in seiner Morbidität mit Mitte zwanzig sehr verbunden fühlte. Wenn Sie für einen Tag in der Zeit an jeden denkbaren Ort zurückreisen könnten, wo würde es hingehen und an welches Datum?
Es würde in das 18. und 19. Jahrhundert zurückgehen, in das ostwestfälische Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Das Dorf beherbergte einst ein Zisterzienserinnenkloster, im 19. Jahrhundert umgewandelt in ein Damenstift; noch heute ist der alte Ortskern mit zahlreichen Stiftskurien aus den letzten Jahrhunderten versehen, Gebäude, die in anderer Funktion genutzt zurückreichen bis ins 15. Jahrhundert. Ich habe mir als Jugendliche so oft gewünscht, in die Vergangenheit dieses Dorfes zu Stift- und Klosterzeiten zu reisen, um zu verstehen, woher ich komme, welche Geschichten meiner kurzen Geschichte vorangingen. Gibt es Literatur ohne Politik?
Prosa, Drama, Lyrik deuten Welt, indem sie neue Welten schaffen, Geschichten erzählen, Szenen entwickeln, Bilder entstehen lassen und sie atmosphärisch verdichten. Sie laden uns ein, machen Angebote, uns ihnen anzuvertrauen – aus ihrer je eigenen Zeit, aus ihrer kulturellen, sozialen, ökonomischen wie politischen Umgebung heraus. Keine Zeile ist dabei im luftleeren Raum entstanden. Aber nicht jede Zeile ist politisch im engeren Sinne. Was ist wichtiger: Bildung oder Lebenserfahrung?
Lebenserfahrung bedeutet für mich vor allem eine Bildung des Menschen, eine Charakterformung in der Auseinandersetzung mit der ihn oder sie umgebenden Welt, die auch ohne Schul- und Universitätsbildung wahr, groß und schön sein kann. Dennoch ist meine Gymnasiums- und Universitätsbildung, gerade weil sie für mich so wenig selbstverständlich und vorgezeichnet war, eine unglaublich wertvolle Lebenserfahrung geworden, die ich bisweilen sentimental idealisiere. Fotografien von Saeed Kakavand