Martin Elbert
09.06.2021
09.06.2021
Ist der Marienplatz noch cool – oder schon wieder?
Die Kurzstrecke in Bus und Bahn ist immer genau drei Haltestellen lang – Zeit genug, um was Kurzes zu lesen. Unser Kolumnist Martin Elbert rätselt heute über den Marienplatz: Ist er noch cool – oder vielleicht schon wieder?
Von den vielen Dingen, die ich nicht verstehe, gehört ewig langes Anstehen für absolut banale Dinge, wie zum Beispiel für eine Kugel Eis von der Hype-Diele, das vermeintlich BESTE Eis der Stadt. Das ist wahrscheinlich schon ziemlich lecker, aber geht nun mal nur um Eis. Eis besteht überwiegend aus verschiedenen, viel freudebereitenden Dickmachern. Und so viel besser als beim Wettbewerber 50 Meter weiter, wo sich nie eine Schlange bildet (weil uncool), oder ein Cornetto-Nuss von einem der Supermärkte um die Ecke, kann eine Kugel Eis für 1,80 Euro überhaupt gar nicht sein.
Herzlich willkommen auf dem Marienplatz, where the Beton is grey and the Dutts are pretty – und wo sich allerspätestens ab 15 Grad Außentemperatur eine Menschenschlange vor der Gelateria Kaiserbau gefühlt bis zum Erwin-Schoettle-Platz bildet und dort den Boule-Boccia-Männern – es sind meistens Männer – im Weg steht. Die Krux mit guten Dingen ist oft, dass irgendwann alle wissen, dass sie gut sind. Auch wenn man nicht immer genau weiß, warum überhaupt. Oder anders gesagt, das alte Phänomen: Viele Menschen sind gerne da, wo andere viele Menschen sind. Prinzipiell ist das eine sehr schöne Sache.
Nur: Irgendwann kommt der Überdruss. Besser besagt, der Wendepunkt in der Good-Feel-Kurve: Ein Freund, unmittelbarer Anwohner, meinte zu mir vor einigen Jahren, er nehme es einem ihm bekannten Gastronomen übel, dass er mit seinem Kaffee im Glas-Verkauf – übrigens eine völlig blödsinnige Sache, Kaffee im Glas zu trinken, da verbrennt man sich nur die Finger –- den Marienplatz explodieren ließ. Er könnte da mittlerweile kaum noch in Ruhe hingehen, so voll und „unangenehm hipsterig“ sei es.
Daran ist dieser Gastronom natürlich nicht alleine schuld. Mein Freund war absichtlich polemisch, es gibt ja noch die anderen Speis-, Trank- und Pizzaofen-Betriebe. Außerdem ist jene Entwicklung zunächst den Menschen selbst zu verdanken, die sich nach und nach versammelten. Diese Entwicklung war Ende der Nullerjahre überhaupt nicht abzusehen. Schon gar nicht, dass es eines Tages „hipsterig“ werden könnte. Inklusive den negativen Auswirkungen eines Hipster-Hypes, nämlich zum Beispiel dass sich Nicht-Hipster dann unwohl fühlen.
Denn der Marienplatz war, als er vor über einem Jahrzehnt neu angelegt wurde, zunächst ziemlich leer. Den Stuttgarter:innen wurde einfach eine große Betonplatte mit einem kleinen Wasserspiel irgendwo versteckt am Rande vorgesetzt. Ok, cool. Dafür hat man zuvor ein bewaldetes Stück Kleinstpark gerodet. Von dem Natur-verdichteten Flecken gibt es leider so gut wie kaum Bilder. Um etwas Gefühl für das berühmte „früher“ zu bekommen, empfiehlt sich auf Youtube das Video „Das A & O“ von Dev Kef ft. Ju (Massive Töne) anzuschauen.
Dann ist das passiert, was in Stuttgart schon öfters passiert ist und das ist absolut großartig: Die Menschen haben sich diesen, von der Sonne aufgeheizten Betonboden kurzerhand erobert. Vielleicht aus Trotz. Vielleicht weil es keine Alternative gab. Vielleicht weil manche dachten, das ist jetzt halt so, machen wir das Beste draus.
Jedenfalls sah man relativ bald, wie vereinzelte Leute ihre Decken mitten auf diesem Platz ausbreiteten. Ich fotografierte das noch mit einem Nokia-Handy. Der Rest ist Geschichte. Danke an dieser Stelle an das Marienplatzfest, das sicherlich zur Popularität des Ortes beigetragen hat. Außerdem dürfte der Marienplatz der einzige Platz in Stuttgart sein, der zwischenzeitlich eine eigene Frisur hatte: den berühmten Marienplatzdutt. Gibt’s in unisex oder non-binär.
Klischees halten sich bekanntlich wesentlich hartnäckiger als die dynamische Realität, wir reden natürlich immer noch vom berühmten Marienplatz-Hipster, aber gerade in den letzten zwei, drei Jahren wurde dieser Ort von einer breiteren Masse okkupiert. Die Early-Mid-Adopter sind vielleicht wie so oft weitergezogen –der Feuersee ist der neue Marienplatz heißt es – und überließen einer weitaus heterogeneren Bevölkerung die Treppen. Gerade in diesen Zeiten braucht es große, multifunktionale Stadträume, die als Gastro-Hotspot, Eis-Schleckerei, Laufsteg oder für ein Tinder-Picknick funktionieren.
Das Beste: An diesem Trichter an der Grenze Mitte-Süd, auf den von allen Seiten alles zukriecht, also die Fußgänger, die Radler, die Zacke, der Bus, die Stadtbahn und die Autos, muss man nicht zwingend mit monetärem Einsatz einsteigen, man kann einfach nur hocken und gucken. Der Marienplatz hat sich aus seiner anfänglichen Coolness-Phase rausgeschält und ist jetzt noch cooler. Weil er ein Ort für alle Menschen ist. Ohne sich für 1,80 Euro ein Eis leisten zu müssen oder gar zu können.
Übrigens: Wenn ich vor Ort bin und die Schlangensituation vor der Gelateria sein sollte wie oben beschrieben, laufe ich zum Eiscafé La Luna. Die Betreiber sind freundlich und in einer Minute hat man sein Eis. Ich sage mir immer: Hoffentlich wird nie der Tag kommen, dass ich für wirklich essentielle Dinge, vielleicht eine Gallone Wasser und ein Laib Brot hoffnungsvoll ewig lange in einer Schlange warten muss. Verstehste? Vieles darüber hinaus ist Luxus. Dafür Schlange zu stehen, ist reine Zeitverschwendung.