Martin Elbert
20.10.2021

Graffiti in Stuttgart: Ist das Kunst oder kann das weg?

Die Frage, ob Graffiti Kunst ist oder nicht, ist schnell beantwortet: Graffiti findet nämlich längst im musealen Überbau statt, in Stuttgart zuletzt im StadtPalais bei „Wände I Walls – Graffiti in Stuttgart“ im Herbst/Winter 2020/2021. Bei der Sonderausstellung ließ man die jahrzehntelange Geschichte der Stuttgarter Szene mit zahlreichen Fotografien von verschiedenen Werken an relevanten Graffiti-Orten Revue passieren.
Parallel dazu wurden im leergeräumten Bonatzbau am Hauptbahnhof bei der begleiteten Secret Walls Gallery riesige Mureals von über 70 Graffiti-Artists gezeigt. Diese beeindruckende Schau wurde von der Deutschen Bahn unterstützt. Eine große Geste, wenn man bedenkt, dass die DB bezüglich Sachbeschädigung, the dark Side of Graffiti, mit am meisten betroffen ist.
Da sind wir schon bei der ältesten Graffiti-Diskussion überhaupt, zumindest, wenn auf illegalen Flächen gesprüht wird: Sachbeschädigung oder Kunst? Meistens irgendwie beides, künstlerisch wertvoll, juristisch strafbar, ein absoluter Metazustand, dein Herz sagt, „das ist ja megageil“, dein Hirn wiederum „aber aber aber ist das nicht…?“ Graffiti, Schrödingers Katze unter den bildenden Künsten. Man schwankt zwischen Sinn und Verstand. Was für mich zumindest aber im weiten Graffiti-Feld gar keinen Sinn macht: Tagging, dieses ewige, unschöne Reviermarkiere und Gekritzel. Als würde man wie ein Hund an einen Laternenmasten pinkeln. Macht man ja auch nicht. Unnötig.
Ansonsten hat die Stadt und andere lokale Institutionen längst die Zeichen erkannt und bietet den Künstler:innen Raum zur Entfaltung – und immer mehr. Die Hall of Fame in Cannstatt kennt jeder und kann man als Konsument:in quasi jede Woche staunend besuchen. Unter der König-Karls-Brücke werden abartige Kunstwerke an die Wände gebombt. Maximal beeindruckend, vor allem, wenn man wie ich, zwei linke Mal- und Zeichenhände hat.
Sidestory: Meine Mutter hat viele Bilder aus meinem Kunstschulunterricht aufgehoben. Die Noten auf der Rückseite meiner Wasserfarben-ertränkten „Gemälden“ schwanken zwischen einer Drei minus und einer Fünf plus. Vielleicht rührt daher meine schnelle Begeisterung für Graffiti und Streetart im Allgemeinen.
Die entdeckt man immer in der Stadt: Überaus präsent in Stuttgart ist der Künstler Jeroo, der ebenfalls schon im StadtPalais ausgestellt hat. Gefühlt hat der längst international bekannte Sprayer mit seinem „biotopischen“ Style zwischenzeitlich jeden Stromkasten und jedes „Stromhäusle“ offiziell gestalten dürfen, dazu kommen etliche Fassaden, wie z.B. an der Hasenbergsteige, oder die längst internetberühmten Brückenpfeiler in Stuttgart-Süd. Das sieht dann doch gleich wesentlich geiler aus als grauer Beton. Man nimmt die Objekte und ihre Umgebung neu wahr, zum Beispiel bei einem Spaziergang.
Weitere Flashs sind zwei brandneu im Graffiti-Kontext veredelte Innenstadtspots: Zum einen die Hirschbuckel-Treppen, die wurden vom Label Stuttgart Souvenirs in kleinteiliger Arbeit in Brezelliebe getaucht. Zum anderen veredelte man die Treppen der durchaus hässlichen Schulstraße in Richtung Königstraße im farbenfrohen Stuttgart-Look inklusive Pferdle. Top Arbeit und beide Aktionen unterstreichen den Ruf von Stuttgart als Streetart-Hochburg und als eine Stadt, die sich für moderne Kunst im öffentlichen Raum begeistern lässt. Übrigens: Ich habe noch nie ein Graffiti auf unserer heißgeliebten Stadtbahn gesehen. Das ist doch echte Liebe und wahrer Respekt.

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