Kein Ort der Welt sieht mehr Umarmungen als ein Flughafen. Gerade in der Weihnachtszeit gibt es kaum etwas Schöneres als das Empfangskommando von Familie oder Freund:innen, die an der Bahnhaltestelle des Flughafens auf ihre Liebsten warten und den Nachhauseweg dann gemeinsam antreten. Dieses Erlebnis blieb Stuttgarter:innen bislang verwehrt – die unterirdische Bahnstation des Stuttgarter Flughafens ist wohl kaum der perfekte Ort für ein langersehntes In-Die-Arme-Schließen. Dazu kommt, dass der Weg in die City bisher von Umstiegen und Fahrplan-Checken geprägt war. Passend zur besinnlichen Jahreszeit wird die Reise vom Flughafen und der Messe in die Innenstadt für Stuttgarter:innen jetzt entspannter – die U6 Erweiterung kommt.
Eine Dreiviertel-Netflix-Folge
Die leuchtenden Buchstaben auf der Linie U6 verkündeten bisher entweder „Gerlingen“ oder „Fasanenhof“ als Ziel. Ab dem 11.12.2021 heißt es „Endstation Flughafen/Messe“, denn mit der Linienverlängerung entsteht eine umstiegsfreie Direktverbindung von Gerlingen, dem Hauptbahnhof und der Innenstadt, sowie den Stadtteilen Degerloch, Möhringen und Fasanenhof bis zum Flughafen und der Messe. Drei neue Haltestellen gibt es, kurz ist die Fahrt trotzdem. Auf der Strecke zwischen Flughafen und Hauptbahnhof könnten Fahrgäste etwa 15 Seiten in ihrem Buch lesen, 9,25 Songs in ihrer Playlist hören oder eine Dreiviertel-Netflix-Folge streamen. Die Fahrt dauert nämlich nur 30 Minuten. Und das ganz ohne Umsteigen.
Bye Bye B27, Adiós A8
Neben den neuen Haltestellen dürfen sich die Stuttgarter:innen über ein weiteres Highlight freuen: Eine eigens für den neuen Streckenabschnitt gefertigte Brücke. Sie überquert die A8 und führt entlang der B27 zum Flughafen und Messegelände. Mit dieser Brücke hat die Stadt Stuttgart ein echtes Unikat dazugewonnen, wie der Projektleiter Steffen Schäfer erklärt: „Wir haben die weltweit erste Netzwerkbogenbrücke mit Carbonhängern gebaut. Normalerweise werden dafür Stahlseile verwendet. Durch die ständige Belastung verlieren sie an Stabilität und Resistenz. Deshalb muss Stahl irgendwann ausgetauscht werden. So eine Ermüdung ist bei unserer neuen Brücke nicht nachweisbar, stabiler geht’s nicht.“
Neben den Parkgebühren am Flughafen ein weiterer Grund also, das Auto lieber stehenzulassen: Über die Brücke lässt es sich entspannt cruisen und Stau ist kein Thema mehr.
"Bei einem Projekt in dieser Größenordnung gilt bei der Prüfung der Genehmigungsplanung statt dem Vier-Augen- das 400-Augen-Prinzip" – Steffen Schäfer, Projektleiter U6 Erweiterung
Gebaut wurde dreieinhalb Jahre lang. Logisch, dass in so einem langen Zeitraum viele Menschen die Baustelle betreten und wieder verlassen – laut Steffen Schäfer vereint das Großprojekt über 110 Auftragsfirmen. Trotz riesigem Koordinationsaufwand durfte der Faktor Nachhaltigkeit nicht auf der Strecke bleiben: „Das Ökosystem muss weiterhin funktionieren“, erklärt Steffen Schäfer. „Tierwelt, Pflanzenwelt, Mensch, Gewässerschutz und Landwirtschaft – all diese Komponenten wurden bereits im Genehmigungsverfahren berücksichtigt. Im Sinne der Renaturierung haben wir beispielsweise entlang der Strecke Ackerflächen begrünt, tierfreundliche Bachbrücken gebaut und auf Restflächen Bäume gepflanzt.“ Besonders cool: An der neuen Station „Stadionstraße“ in Leinfelden-Echterdingen wird ein Automat aufgebaut, an dem Fahrgäste Bio-Produkte der umliegenden Landwirte kaufen können.
Endstation Urlaubsmodus
Die neue Station „Flughafen/Messe“ ist für großen Andrang gewappnet. Zusätzlich zu den üblichen zwei Bahnsteiggleisen gibt es im Tunnel der neuen Endstation ein drittes Gleis. Dort können zwei Stadtbahn-Doppeleinheiten hintereinander bereitgestellt werden, was insbesondere bei Großveranstaltungen auf der Messe praktisch ist – innerhalb kurzer Zeit können Fahrgäste in sechs Doppelzüge nacheinander einsteigen. Das entspricht einer Kapazität von etwa 3000 Fahrgästen. Von 6 bis 20 Uhr verkehrt die U6 im Zehn-Minuten-Takt. Doch auch trotz geringer Wartezeit lohnt es vor allem nach Sonnenuntergang, kurz Innezuhalten: Abends ist die Station beleuchtet.
Neue Ära am dritten Advent
Eröffnet wird die neue U6 am 11.12. An diesem Wochenende dürfen Fahrgäste gratis auf der neuen Linie cruisen. Während für die Stuttgarter:innen in der zweiten Dezemberwoche ein neuer Mobilitätsabschnitt beginnt, endet für Steffen Schäfer sein bisher größtes Projekt. Eine Probefahrt hatte der Projektleiter bereits: „Als der allererste Zug auf die Strecke gelassen wurde, durfte ich direkt neben dem Fahrer sitzen. Das ganze Projektteam war dabei und natürlich hat jeder auf seine fertige Arbeit geschaut: Geht die Ampel an? Wie verhält sich der Zug auf der Schiene? Ich saß mittendrin und als wir das erste Mal über die Brücke in die Endhaltestelle eingefahren sind, war das schon etwas Besonderes.“
Fotografien von
Leonie Bucher