Katja Wanke
23.03.2022

Zirkus Carlotta – Junges Schriftstellerhaus

Woran denkst du zuerst, wenn du das Wort "Ticket" hörst? Boardingpass, Festival, SSB oder doch dieser eine Seeed-Song? Der Frage haben sich letztes Jahr die Teilnehmer:innen des Jungen Schriftstellerhauses in Stuttgart gewidmet. Dabei handelt es sich um eine Schreibwerkstatt für Jugendliche und junge Erwachsene, bei der sich Teilnehmer:innen regelmäßig im Stuttgarter Schriftstellerhaus zum gemeinsamen Arbeiten an eigenen literarischen Texten treffen.
Mit freundlicher Unterstützung der Herausgeber und Autor:innen dürfen wir einige Texte in unserem Magazin veröffentlichen – jeder Text handelt von einem "Ticket", jeder Text interpretiert dieses Ticket anders.
Wer "Ticket – zwanzigeinundzwanzig" in voller Länge lesen möchte, kann das Buch hier bestellen.

Zirkus Carlotta von Ruth Greiling

Das grüne Ticket zittert in der Luft und fürchtet in der Menge verloren zu gehen. Jeremias sieht die Kasse nicht, den großen Rücken vor ihm könnte er mit der Nase berühren. Das passiert auch beinahe, als mit einem Drängler ein Ruck durch die Menge geht und Jeremias das kleine Ticket zerknittert, um es festzuhalten. Es ist viertelnachvier, als er endlich an die große überdachte Pforte treten kann und dem Mann hinter dem Glas den Abreißschein hinlegt. Der greift ihn, betrachtet ihn im gelben Licht der Stehlampe und gibt ihn zurück.
»Das nehm ich nicht.«
»Zirkus Carlotta?«, fragt der Junge besorgt und verrenkt seinen Hals, um ein weiteres Mal den bunten Schriftzug über Zaun und Kasse zu entziffern.
»Das ist kein zulässiges Ticket. Steht nicht mal eine Vorstellung drauf, und jetzt lass die nächsten durch, Junge.« Enttäuscht starrt Jeremias auf den Schein. Hat der Mann ihn reingelegt? Um ihn auszulachen?
»Bitte geh zur Seite.«
Jeremias muss beobachten, wie nach und nach Familien mit Kindern in seinem Alter, Paare und Großeltern durch das Drehkreuz gehen, alle reich, alle glücklich, alle mit einem großen weiß-gelben Ticket in der Hand.
»Gibt es hier noch einen Zirkus?«, fragt Jeremias den Kassierer irgendwann.
Der schüttelt nur den Kopf und winkt ihn fort, damit er den anderen wieder Platz macht. Es stehen nur noch wenige Gäste vor dem Zelt. Einige unterhalten sich, andere warten auf die verspätete Begleitung, bis schließlich ein rasches Trompeten ertönt und auch die letzten im großen Zelt verschwinden. Eine Hand tippt Jeremias auf die Schulter.
»Zeig mir mal dein Ticket«, fordert ein großer, muskulöser Mann.
Jeremias reicht es ihm, und der Mann mustert es kritisch. Jeremias sinkt schon der Mut, da sagt der Mann:
»Komm heute Nacht wieder. Elf Uhr. Die Vorstellung beginnt hier.« Dann nickt der muskulöse Mann dem Kassierer zu, der bereits seine Sachen zusammensucht, und verschwindet hinter dem Holzzaun.
Mittlerweile sieht das Ticket sehr mitgenommen aus. An einigen Stellen hat es Farbe verloren und dort, wo Jeremias’ Finger es halten, ist es wellig. Die grüne Farbe sieht in dem warmen Licht der Straßenlaterne gelblich aus und unterscheidet sich kaum mehr von Jeremias‘ Haut. Er zieht seine Jacke enger zusammen und starrt gebannt auf den grell leuchtenden Schriftzug auf dem leeren Kassenhäuschen. Selbst die längsten Gespräche nach der Vorstellung sind vorbei und auf dem Gästeparkplatz stehen nur noch ein schwarzer Mercedes und ein Wohnmobil. Jeremias holt die Bäckertüte hervor und isst das letzte Stück Schokocroissant, das ihm eine Passantin gekauft hat. Ein Auto nähert sich. Es ist klein und gelb und summt leise, als es auf einen Parkplatz rollt. Eine Frau steigt aus. Sie ist groß und trägt einen braunen Rucksack auf dem Rücken. Die Fahrertür schlägt zu. Ein weiteres Auto erscheint. Ein silbernes diesmal, zeitgleich mit einem Fahrradfahrer, der leise zum Zaun fährt und sein Fahrrad daran festschließt. Aus dem silbernen Auto steigen ein Mädchen und ein Mann. Sie grüßen die Frau mit dem Rucksack und stellen sich an die leere Kasse. Aufregung durchfährt Jeremias. Er packt die Brottüte ein, die in der Stille sehr laut raschelt, und erntet den Blick des Mädchens. Es ist älter als er, vielleicht zwei Jahre, und ihre Klamotten sagen ihm, dass sie reich sein muss. Wie ihr Vater trägt sie eine schwarze Hose und ein helles Oberteil. Plötzlich leuchten Laternen an Kasse und Zaun auf, auch dahinter wird es hell. Jeremias steht zögerlich auf, gerade als der Zeiger seiner Uhr auf elf springt, gerade als sich der große, muskulöse Mann durch das Drehkreuz zwängt.
»Meine Damen und Herren«, dröhnt seine Stimme durch die Stille. »Eine schöne Nacht für ein wundersames Geleit durch Zirkus Carlotta.« Jeremias schaudert. »Ihre Karten, wenn ich bitten darf?«
Zu Jeremias’ Erstaunen und großer Erleichterung halten alle das gleiche kleine Abreißscheinchen vor. Die Frau aus dem gelben Auto, der Radfahrer, Vater und Tochter und Jeremias, der es dem muskulösen Mann nun wie einen Trumpf entgegenstreckt. Der Mann wirft einen Blick darauf und nach zwei schmerzvollen Sekunden nickt er lächelnd, tackert ein Loch hinein und gibt den Weg frei.
Jeremias drückt sich durch das Drehkreuz und gewinnt den Blick auf einen bunt beleuchteten Platz, der an einen alten Rummel erinnert. Jeremias‘ Blick wandert von großen, gestreiften Zelten über bunte Wimpel, eine hohe Laterne zu einem alten Karussell, Fackeln, kleinen Wägelchen und weiteren Zelten. Dahinter liegt im Grau das große Zirkuszelt, das wie ein ferner Berg das warme Tal des Rummels eröffnet.
»Faszinierend, nicht wahr?«, murmelt die Stimme des muskulösen Mannes.
Hastig eilt Jeremias weiter, nun können es auch die anderen sehen. Wie zuvor Jeremias bleiben sie alle kurz staunend stehen.
»Wer nicht pünktlich ist, den frisst das Schicksal«, verkündet der Gruppenbegleiter, dann erstirbt das Licht der Kasse und der Schatten fällt wie ein Vorhang, um das Geschehen vor ihnen freizugeben.
»Nun dann... Manege frei«, sagt er leise, und plötzlich ist es, als erwache der Rummel zum Leben. Die Flammen der Fackeln werden lebendig, eine ferne Blaskapelle tönt über den Platz, hinter einem Wägelchen dreht eine alte Frau Zuckerwatte, das Karussell beginnt sich zu drehen, seine Tiere werden auf und ab gewiegt und von Ferne meint Jeremias einen Löwen brüllen zu hören. Erst jetzt bemerkt er, dass dem muskulösen Mann Ketten um Hals und Arme hängen. Schwere aus Eisen, die er bewegt, als wären es Seidentücher.
»Also los, die Nacht ist jung, und es gibt viel zu erleben«, grinst der Kettenmann, und die Gruppe folgt ihm ehrfürchtig staunend. »Hier hinein. Nur hindurch.«
Nacheinander tauchen sie durch helle Stoffe in das erste Zelt. Es ist stockdunkel.
»Aufrutschen, meine Damen und Herren und Mädchen und Jungen.«
Eng aneinander stehen sie, wartend. Als ein Lachen ertönt, fahren sie alle zusammen. Dann tanzen Lichter vor ihren Augen und bewegen sich wie auf einer Bühne, in Kreisen, erstaunlichen Tänzen, symmetrische Kunst in der Höhe, in wirbelnden Winden und zartem Gesäusel. Wieder ein Lachen und die Lichter verschwinden, tauchen auf, überall um die Gäste herum. Das Lichtspiel geht unter die Haut und diese ist plötzlich die Leinwand, die Gäste im Zentrum der Schau. Die Lichter verzieren Gesichter, die Frau und ihr Rucksack werden zu wandelnden Mustern, Vater und Tochter eine breite Person, der Radfahrer bekommt ein neues Gesicht und Jeremias dreht sich, er gleicht einem Uhrwerk. Und das Lachen ertönt und wie es stirbt, ersterben auch die Lichter, sie stehen wieder im Dunkeln und die leise Stimme des Gruppenbegleiters sagt:
»Danke, Parvino.«
Dann hebt er den Stoff, Licht und Luft strömen ins Zelt und im Staub und Nebel sehen sie alle nur die Schemen der anderen, bis sie hinaus ins Freie treten und sich bewunderte und auch erleichterte Blicke zuwerfen.
»Na, hatte ich recht?«, sagt der Vater zu seiner Tochter, die noch immer stirnrunzelnd zurück zum Zelt des Parvino sieht. »Das mit dem Nebel war eine feine Sache«, meint der Radfahrer. Jeremias bleibt still und hält mit aufgerissenen Augen das durchlochte Ticket fest.
»Wie lange arbeitet Parvino schon in diesem Zirkus?«, fragt die Frau mit dem Rucksack.
»Mhm?«, macht der Gruppenbegleiter und dreht sich zu ihr um. »Vierzehn Jahre vielleicht. Ein einprägsamer Mann, nicht wahr? Er fügt sich dem Zirkus wie ein Clown der Nacht. Wenn Sie mir bitte folgen mögen.«
Anstatt zum nächsten Zelt zu gehen, werden sie gesäumt von Fackeln hinausgeführt auf weichen Wiesenboden, einer flüchtigen Strenge entgegen, die sie bald die Nasen verkneifen lässt, bis der erste von ihnen, der Radfahrer, aufkeucht und die Gruppe zum Stillstand bringt.
»Kein Grund zu Sorge, meine verehrten Gäste, sie leben hier so lange wie ich und sind mindestens genauso zahm.«
Nun kann Jeremias sie auch erkennen. Sein Atem stockt. Keine fünf Meter vor der Gruppe stehen frei eine Löwin und ein Löwe, aufmerksam zur Gruppe blickend. Vater und Tochter krallen sich aneinander, und auch die Frau macht ein
schockiertes Gesicht. Jeremias weicht zurück, er erinnert sich an manch nächtliche Situation. Nur die Ruhe des Gruppenbegleiters lässt Jeremias‘ Neugierde siegen.
»Das sind Eva und Goethe, ein unzertrennlich auf ewig verbundenes Paar, dem Schicksal erlegen, um Sie, meine verehrten Gäste, nun in Staunen zu versetzen.«
»Über genügend Freilauf lässt sich nicht streiten«, meint der Vater stumpf.
»Kein Löwe ist zahm genug für das hier!«, sagt der Radfahrer und verstummt, als Löwin und Löwe langsam aufstehen und an ihnen vorbeistreifen.
Die Gruppe hält den Atem an, auch Jeremias‘ Herz klopft bis zum Hals. Der ernste Blick der Löwin schweift durch die Menge, dann beugen sie sich hinunter zu den feurigen Fackeln und umschließen das Holz mit dem Maul. Die Gruppe rückt enger zusammen, als die Katzen zurück auf ihre Plätze schreiten, während die Flammen lodernden Mähnen gleichen. Die Gruppe sieht, wie sie sich elegant umrennen, sich kraftvoll vom Boden abstoßen, über die Fackeln der anderen rauschen, wie sie in Kunststücken verweilen und dabei immer wieder nacheinander haschen, alles mit dem Feuer in den gefährlichen Mäulern. Die Hitze brennt auf den Gesichtern, die kühle Nachtluft gesellt sich dazu. Löwin und Löwe verneigen sich, die Löwin zeigt ihre langen Zähne, der Löwe schüttelt seine prächtige Mähne.
Noch immer beklommen, sagt keiner der Gäste ein Wort, der Gruppenbegleiter ergreift es sowie eine Fackel: »Danke, Eva und Goethe, bis zur nächsten Schau, auf dass ihr mutig werdet.«
Dann geht er voran, die anderen hinterher, die nur unwillig den freien Löwen den Rücken zukehren.
»Wir bleiben alle Feiglinge«, knarrt eine tiefe Stimme.
Jeremias dreht sich noch einmal um, doch dort sitzen nur Löwin und Löwe, den Gästen starr und ernst hinterherblickend. Ihr Weg führt zurück auf den beleuchteten Rummelplatz, die Frau hinter dem Wägelchen winkt den Ankömmlingen fröhlich zu, der Radfahrer winkt zurück, doch Jeremias‘ Gedanken hängen dem Geschehenen nach. »Zwei wundersame Wesen, findest du nicht?«
Er zuckt zusammen, ganz nah an seinem Gesicht taucht eine schiefe Fratze mit roter Nase und breiten weißen Backen auf.
»Wer nicht kämpft, der nicht verliert, hab ich recht?« Der Clown tänzelt um die Gruppe herum, die interessiert stehen bleibt. »Und wer gewinnt, der zaubert sich ein Lachen.«
Vor der Frau mit dem Rucksack bleibt er stehen. »Dreimal rate ich, einmal falsch und du bekommst noch so ein Scheinchen, ich möchte nicht gegen Profis spekulieren.«
Die Gruppe sieht gebannt zu, wie der Clown um die Rucksackfrau schwingt. »Drei Kinder und der Mann ist gestorben, korrekt?«
Die Rucksackfrau versteift sich und nickt mit verschlossener Miene.
»Nichts zu lachen, nichts zu machen.« Der Clown reibt sich die Hände. Dann klatscht er und greift sich in den Nacken: »Oho, wem mag das gehören?«
In der Hand hält er Jeremias‘ Taschenuhr. »Nur eine Uhr, die Zeit erlebt hat, kann sie messen«, sagt der Clown leise. Er dreht an dem kleinen Rädchen und plötzlich beginnt sie zu singen.
Jeremias kennt die Melodie nicht, dennoch berührt sie ihn tief. Ohne dass er es will, taucht seine Mutter in seinem Kopf auf. Die Töne verstummen, und die Zirkusmusik rückt wieder in den Vordergrund.
»Da drängt es mich, laut mitzusingen«, sagt der Clown und gibt Jeremias die Uhr zurück. Der Radfahrer lacht nervös auf.
»Und Nummer drei«, der Clown wendet sich wieder der Rucksackfrau zu: »Fünf von sechs, bemerkenswert. Zahlen für das Leben, korrekt?« Der Clown feixt. Die Frau scheint ihn zu verstehen, denn sie starrt ihn seltsam an.
»Nein, wunderlich, ein Ticket dafür zu verlangen.« Der Clown läuft um den lächelnden Gruppenbegleiter herum. »Glück verkaufen. Spannende Sache. Was bleibt zurück? Unglück? Doch was ist Pech, wenn man zwei Löwen hat.« Jeremias meint zu sehen, wie der Gruppenbegleiter erstarrt.
Der Clown sieht umher, in ernste und verwirrte Gesichter. »Diese Rederei macht Hunger, so soll vor dem nächsten Spektakel das Blut beschwingt werden.«
Wie auf ein Stichwort hält ihm die alte Frau eine Zuckerwatte hin, die der Clown, verschwörerisch funkelnd, an Jeremias weiterreicht. Da erkennt der sein Gesicht. Jeremias nimmt die Zuckerwatte und sieht dem Mann entgegen, der ihm, ungeschminkt und in einen braunen Mantel gekleidet, das Ticket geschenkt hat. Alle Gäste ergreifen eine Watte, nur die Frau mit dem Rucksack lehnt dankend ab.
»Schade, wirklich schade, ein Vorzug ist das, ist belebend, ist berauschend«, ruft der Clown heiter. Der Radfahrer beginnt bei den Worten zu husten, der Vater sieht etwas beunruhigt zu seiner Tochter, die die Augen unentwegt auf den Clown gerichtet hat und grinsend an der Zuckerwatte knabbert.
Da klatscht der Clown wieder in die Hände: »Nun wollen wir uns und das Unmögliche betrachten, die Fackeln in den Boden, in den Boden.« Er winkt dem Gruppenbegleiter zu.
Dieser räuspert sich: »Sie haben ihn gehört. Weiter geht’s.«
Die Gruppe nickt, die Zuckerwattefrau lächelt, doch sie sind kaum einige Schritte gegangen, da halten sie erneut. Über den Platz schlurft ein Mann in dunklem Umhang. Sein Kopf ist verschleiert, nur zwei Löcher erlauben ihm die Sicht hinaus. Ohne die Gruppe zu beachten, läuft er auf den dunklen Pfahl in der Mitte des Platzes zu, der, wie Jeremias erkennt, keine Laterne ist. Dort, am Querholz, wo die Lampe fehlt, da hängt etwas hinunter.
»Nein!«, flüstert der Radfahrer.
»Das ist doch...«, sagt der Vater und wirft einen Blick auf Jeremias. »Es sind Kinder anwesend.«
Der Clown hält seinen Finger vor den Mund. »Psst!«
Der Gruppenbegleiter räuspert sich: »Nun, verehrte Damen und Herren und Kinder. Erneut wollen wir das Schicksal herausfordern, es auf die Probe stellen und das Beste hoffen für Gregor, den Henker.«
Der Clown stellt ihm lächelnd einen Stuhl hin. Ohne ihn zu beachten, klettert der Henker hinauf. Die Rucksackfrau zieht die Luft ein, als der Henker stumpf nach der Schlinge greift.
»Nicht hinsehen«, sagt der Vater gebannt. Die Tochter wirft ihm einen spöttischen Blick zu und beobachtet mit dem gleichen leuchtenden Flimmern in den Augen, wie sich der Henker die Schlinge um den Hals legt.
»Uund Hopp«, flüstert der Clown, und in Jeremias zieht sich alles zusammen, und der Henker springt. Etwas knackt, und dann hängt er. Er schwingt ein wenig, doch das ist alles. Jeremias kann nicht wegsehen. Und es geschieht nichts. Der Clown trippelt mit den Händen. Das Mädchen sieht aus, als wäre ihm schlecht. Der Radfahrer hält sich die Hand vor den Mund, die Rucksackfrau holt Luft, doch bevor sie etwas sagen kann, gibt es einen »Plopp«, und die Schlinge ist frei. »Er ist fort!«, ruft der Vater aus.
Der Clown sieht ihn funkelnd an. »Wer sehen kann, den lobt das Auge.«
Und da läuft der Henker erneut zur Mitte des Platzes, der wartende Clown stellt den Stuhl wieder auf. Diesmal linst auch der Radfahrer durch seine Hände, und Vater und Tochter können den Blick nicht mehr wegnehmen, und als der Henker springt und als sich das Seil strafft und das unheilvolle Knacken ertönt, gibt der Radfahrer ein Stöhnen von sich, und die Rucksackfrau sieht beunruhigt zu Jeremias und dem Mädchen und bleibt am Blick des Mädchens hängen. Wieder warten sie schweigend, blinzeln hin und her, zu der Stelle, wo er hängt und wo er geht, und mit einem »Plopp« ist er wieder am Anfang und geht seinen schleppenden Gang.
»Zwischen Tod und Leben gefangen, ein Spiel mit dem Sein, ist das nicht wundervoll?«, flüstert der Clown.
»Ihre Idee?«, gibt die Rucksackfrau leise zurück. Etwas im Gesicht des Clowns flackert auf.
»Interessiert?«, fragt er. Und wieder springt der Henker, und wieder hängt er, und wieder geht er langsam seinen Weg. Ein Kreislauf, der gleichbleibend bannt. Da sieht Jeremias im Schatten zwischen den Zelten eine weibliche Gestalt, sie beobachtet das Geschehen stumm und ausdruckslos, wie der Gruppenbegleiter ausdruckslos blickt, und plötzlich erkennt Jeremias, dass der Mann vor ihnen stirbt. Er reibt sich die Augen, hört das unheilvolle Geräusch...
»Kann ich die haben?«, fragt er den Radfahrer und reißt ihn so aus seiner Starre, auch die Rucksackfrau streckt ihren
Rücken und wendet sich langsam ab. »Natürlich.«
Der Radfahrer braucht etwas, dann streckt er Jeremias seine halbe Watte hin. Sie karamellisiert in der Hitze der Fackeln. Der Gruppenbegleiter sieht zwischen den Gästen hin und her.
»Das war Gregor, der Henker. Ein Meister seiner Kunst, ein Verführer von Mutter Tod.«
Der Clown scheint den Text mitzusummen, der Henker verbeugt sich knapp. Als sie weitergehen, ist die Frau zwischen den Zelten fort.
»Wohin gehen wir jetzt?«, fragt der Radfahrer nervös über die Schulter blickend.
»Noch jemand Zuckerwatte?«, fragt die Frau mit dem Wägelchen gutmütig. Der Clown runzelt die Stirn, die Gäste verneinen murmelnd.
»Sicher, mein Lieber?«, fragt die Frau den Radfahrer, der nuschelnd ablehnt.
»Auf zur nächsten Attraktion, meine Mitstreitenden der nächtlichen Sphäre!«, ruft der Gruppenbegleiter und deutet auf ein dunkles Zelt.
Wieder tauchen die Gäste zwischen die Laken. Noch wie sich die Watte kribbelnd auf Jeremias’ Zunge löst und die warme Flüssigkeit Jeremias’ Hals hinunterrinnt, sieht er die Frau hinterm Wägelchen, die ihnen grimmig nachsieht, und der heiße Zucker scheint Jeremias‘ Rachen zu verkleben und dann fällt der Stoff und das Bild, und ein Paar beginnt zu fliegen. Wahrlich durch die Luft, Mann und Frau, ohne Seil balancieren sie in hellen Gewändern zwischen Blüten und Sternen, ohne Schaukel schwingen sie galant und grazil. Die Musik des Rummels ist fort, die Melodie der Stille setzt ein, kein Laut tönt von den staunenden Köpfen, die friedlich blicken, alles Leid vergessen, gefangen im Moment des wandelnden Paars. Auch als sie fort sind, bleiben die Gäste reglos und lauschen dem Spiel hinterher. Selbst der Clown bleibt stumm und verweilt in Gedanken, bis das Paar auf der Bühne erscheint, zurück auf dem Boden, zurück in Gewändern in leuchtendem Schwarz. Sie verneigen sich, halten Hände und lächeln.
»Niels und Arianne, die treue Jugend, ein Herz, die Sehnsucht und der Abschluss unserer Runde«, sagt der Gruppenbegleiter mit ruhiger Stimme.
»Auf ein Neues, Sehnsucht und Schau und spannendes Spektakel«, sagt der Clown und betrachtet sie einzeln.
Jeremias fängt den tiefen Blick auf, er denkt an Wärme, die fremde Melodie seiner Uhr und die Zuckerwattefrau. Das Paar entschwindet im Dunkeln, und die Gäste gleiten unter den freien Himmel. Die Musik bleibt stumm, das Karussell erstarrt, die Zuckerwattefrau und der Clown sind fort. Der Radfahrer, die Rucksackfrau, Vater und Tochter und Jeremias betrachten ein letztes Mal beklommen den Platz, dann gehen Lichter am Kassenhäuschen an und alle für sich bedauernd hinaus.
Die Gäste sind fort. Jeremias allein. Alles ist unwirklich, nichts scheint geschehen. Er lugt fröstelnd über den Holzzaun, doch dort ist nur die Dunkelheit. Das Neonschild über der Kasse leuchtet grell und lässt ihn die Augen verkneifen. Kurz meint er ein Brüllen zu hören, ein Quietschen eines Karussells vielleicht. Oder ein verhallendes Lachen. Irgendwo wird ein Motor gestartet, und dann sieht Jeremias Arianne hinter dem Zaun. In Jeans und Pulli gekleidet, und er erkennt sie, hatte sie schon am Henkersplatz gesehen.
»Komm nicht wieder her«, sagt sie leise durch das Holz. Freude und Aufregung verdrängen die Kälte, denn die Tänzerin ist wirklich. Er springt auf, doch schon ist sie wieder fort und Wind bläst Jeremias durchs Gesicht, er sieht den Clown und den Strick und Arianne und dann hält er das Ticket unter die helle Laterne, kaum mehr als ein paar Brösel, und Jeremias fröstelt, er zieht die Jacke enger um sich.
Collage von Leonie Bucher.

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